Früh scheint die Sonne aufs Zelt ohne richtig zu wärmen. Ich stehe trotzdem auf, denn am Nachmittag soll es regnen. Und so komme gegen 8:30 Uhr los. Als Erstes muss ich einen Weg zurück auf den Wanderweg finden. Ich steige auf den Hügel östlich des Sees. Dort treffe ich auf einen Kuhpfad, die mich an eine Stelle leitet, wo der steile Abstieg in die Senke Curegia möglich ist. Wenig später bin ich wieder auf dem Wanderweg und steige zum Septimerpass (Pass da Sett) ab. Der Wanderweg führt über Felsen und Grashügel. Fünf hellbraune Jungkühe kommen mir zügigen Schrittes auf dem Wanderweg entgegen. Wir stehen uns Ersteinmal gegenüber, aber als ich etwas den Hang absteige, trauen sie sich an mir vorbei. Hinter der nächsten Ecke kommen mir zwei Nachzügler entgegen. Auch hier gehe ich aus dem Weg. Die erste Kuh macht einen großen Bogen, die zweite läuft verträumt direkt auf mich zu und will mal schnuppern. Hinter mir drückt ein Wolkenband am Sur al Cant entlang zum Forcellinapass. Da wo eben noch mein Zelt in der Sonne stand, herrschen nun Wolken vor.
Die Seen Leg da Sett kommen zügig näher. Kurz vorm See zeigt mir ein großer Bulle, dass er dort das Sagen hat und stellt sich demonstrativ auf den Wanderweg. Aufreizend langsam geht er vor mir her, während hinter mir ein eben noch ängstlicher Jungstier Mut fasst und mir folgt. Das muss ich nun nicht haben. Ehe es richtig ungemütlich wird, entschließt sich der Muni zum Glück mich doch vorbeizulassen und zweigt zum Grasen ab. Kühe habe ich für heute genug gehabt.
Von den Seen geht es noch rund 80 Meter hinab zum Septimerpass. Er war vom 4. bis zum 17. Jahrhundert von Bedeutung. Der Pass war die Verbindung zwischen Bivio und Casaccia und eine wichtige Route nach Italien. Auch die Walser aus den Averstal nutzen die Verbindung über den Forcellina und Septimerpass zum Handel mit dem Süden. Erst mit der Fertigstellung der Passstraße über den Julierpass im Jahre 1840 ging die Bedeutung verloren.
Während ich absteige, wandert im Gegenhang eine Gruppe aufwärts, das wird der Wanderweg zum Pass Lunghin sein. Hinter mir drücken immer mehr Wolken in das Tal. Zum Glück bin ich früh losgekommen.
Um kurz nach 10 Uhr stehe ich am Septimerpass oder Pass da Sett (2310m). Südlich vom Pass steht ein kleines Steinhaus. Die ehemalige Herberge Tgesa da Sett ist heute privat. Auf halber Strecke zum Pass liegt ein unscheinbarer bewachsener Hügel. Es sind die Überreste des Hospiz St. Peter. Ein Auto fährt vor und die Kühe kommen in Bewegung. Es scheint der Bauer zu sein, der nach dem rechten schaut. Weiter oben ziehen Wolken auf. Auch der Pass Lunghin (2645m) ist wolkenverhangen. Ich beginne trotzdem mit dem Aufstieg. Hoffentlich hält das Wetter.
Über Alpwiesen führt der Wanderweg bergan. Als ich auf den idealen Sitzstein treffe, fällt mir auf, dass ich noch keine Pause hatte. Der Wind ist etwas ungemütlich, aber etwas essen und trinken sollte ich schon. Der Bauer sucht inzwischen mit seinem Hund die Hügel auf dieser Talseite nach seinen Kühen ab und winkt mir zu. Flink läuft er von Hügel zu Hügel. Da kann ich nur neidisch zuschauen. Ich schultere meinen Rucksack und gehe weiter. Inzwischen gehe ich in den Wolkenschwaden. Wenn es noch schlechter werden sollte, will ich am kleinen See östlich des Motta da Sett am P.2473 nach einem Zeltplatz schauen. Dann reißen die Wolken über dem Pass auf und ich sehe blauen Himmel. Auf einer Kuppe stehen Menschen. Das scheint der Gipfel des Piz Lunghin zu sein.
Schritt für Schritt komme ich den Pass näher. Ich passiere den Punkt 2473, ohne weiter über eine Nacht hier oben nachzudenken. Es ist noch nicht Mittag, aber ich habe Hunger und so mache ich vor dem letzten Anstieg auf 2520m eine Pause. Ich habe genug Wasser dabei und so ist der Kocher schnell ausgepackt. Instantnudeln sind immer gut und schnell zubereitet. Nach einer halben Stunde gehe ich gestärkt weiter.
Kurz vorm Pass kommt mir eine Familie mit kleinen Kindern entgegen. Ich werde aufgemuntert es gleich geschafft zu haben. Und dann stehe ich auf dem Pass Lunghin. Hier ist die einzige Dreifach-Wasserscheide Europas verkündet ein Schild. Vor allem ist hier viel los. Der Gipfel des Piz Lunghin lockt heute viele Wanderer an, auch wenn der Aufstieg ab dem Pass als weiß-blau-weißer Alpinwanderweg gekennzeichnet ist.
Unterhalb des Piz Grevasalvas leuchter der See Lägh dal Lunghin tiefblau. Bevor ich absteige, mache ich aber erst einmal eine Pause. Ein Blick auf die Karte verrät mir auch des Rätsels Lösung wo die drei Bäche sind. Das Wasser des Lägh dal Lunghin fließt über Inn und Donau ins Schwarze Meer. Beim Aufstieg der Bach südlich des Wanderwegs fließt über die Maira und Po ins Mittelmeer. Und wenn ein Tropfen in den Bach nördlich des Wanderwegs fällt, fließt er über Julia und Rhein in die Nordsee.
Noch immer habe ich den vorhergesagten Regen im Kopf und so beginne ich lieber mit dem Abstieg zum See. Am westlichen Seeufer des Lägh dal Lunghin(2490m) weiden schottische Hochlandrinder. Der See ist gut besucht. Von Maloja ist er ein beliebtes Ausflugsziel. Ich quere den Seeabfluss und sehe dann am Ostufer zu meiner Überraschung ein Zelt. Es sieht so aus als wäre es mit einem impovisierten Weidezaun geschützt. Wir winken uns zu. Für mich geht es weiter nach Plaun Grand. Allerdings hoffe ich am Muotta Radonda einen Zeltplatz mit Trinkwasser zu finden.
Der Bergwanderweg führt am Steilhang unterhalb des Piz Grevasalvas entlang. Es gibt tolle Ausblicke ins Tal zum Silsersee. Im Süden kann ich den Stausee Lägh da l'Albigna sehen. Die Wolken hängen tief und die düstere Stimmung wirkt fast etwas bedrohlich. Eben war der Bergwanderweg noch gut zu begehen, schon wird es beschwerlicher. Felsblöcke verlangsamen das Vorankommen. Eine Mountainbikegruppe hat denselben Weg und flucht etwas über die Routenwahl. Dann ist das letzte Geröllfeld überwunden und sie können den Singletrail genießen. Ich nutze die Mobilfunkverbindung und prüfe den Wetterbericht. Es ist weiterhin um 15 Uhr Starkregen in Maloja angesagt. Das ist noch eine Stunde hin, aber bereits jetzt frischt der Wind auf und Wolken ziehen wieder auf. Nichts wie weiter.
Wenig später bin ich am Muotta Radonda. Am östlichen Tümpel findet sich ein geschützter Zeltplatz. Ich kann an der Bergkette entlang schauen. Vor dem Piz Lagrev kann ich den Pass Fuorcla Grevasalvas erahnen. Ich baue das Zelt auf und hole Wasser. Die ersten Fallwinde drücken die Wolken über die Bergkette hinab und rütteln am Zelt. Letzte Wanderer kommen noch vorbei. Ob sie es noch bis ins Tal schaffen? Pünktlich donnert es und Sturm und Regen beginnen. Ich koche Tee und esse aus Zeitvertreib Rührei.
Um 16 Uhr ist der Spuk vorbei. Im Süden ist der Himmel Pechschwarz, während bei mir schon wieder die Sonne scheint. Von der Felswand rauscht nun ein Wasserfall herab. Der Wind hat gedreht und die seitlichen Windböen setzen dem Zelt zu. Laut flattert der Stoff im Wind. Ich drehe das Zelt um 90° und hoffe so auf eine ruhige Nacht. Zu Abend esse ich Chili con Carne. Gegen 19 Uhr scheint auch im Süden die Sonne. Viele der Gipfel sind wolkenverhangen, aber ich kann schließlich den wolkenfreien Piz Bernina erspähen.